Enshittification der Psychotherapie?

Was im Koalitionsvertrag zu Psychotherapie steht, macht mich sehr skeptisch. Es erinnert mich an "Enshittification", einen dreistufigen Verfallsprozess, bei dem zunächst eine Plattform Anbieter und Nutzer mit niedrigen Hürden lockt, dann die Bedingungen verschlechtert und schließlich beide Seiten ausbeutet. Nutzer von Instagram oder Facebook können davon ein Lied singen: Heute sieht man dort kaum noch Beiträge von Freunden, sondern Werbung und polarisierende Inhalte, die mit Emotionen spielen, um die Nutzungsdauer zu maximieren. Ich möchte kurz meine Horrorvision der Zukunft schildern:

Phase 1: Der Koalitionsvertrag verspricht mehr Zugang zu Therapien durch psychosomatische Grundversorgung durch Hausärzte, mehr Institutsambulanzen und "niedrigschwellige Online-Beratung" und "digitale Gesundheitsanwendungen". “In der Fläche” und “auf dem Land” soll so die Versorgung sichergestellt werden. Zwar sind DiGAs manchmal hilfreich, so wie auch manche Podcasts und Instagramkacheln hilfreich sind. Doch psychisch kranke Menschen brauchen keine DiGas, sie brauchen keine Online-Beratung und sie brauchen auch selten quartalsweise Gespräche in Ambulanzen. Psychisch Kranke brauchen Psychotherapie. Sie brauchen tiefe - statt breiter - Versorgung. Auch problematisch: Die Institutsambulanzen und die veränderte Bedarfsplanung werden zu weiteren Konzentration der Versorgung in größeren, effizienzorientierten Strukturen führen - ähnlich wie bei digitalen Plattformen, die zunächst Vielfalt fördern, um später den Markt zu monopolisieren und Bedingungen zu diktieren.

Phase 2: Schon jetzt lohnt sich Kurzzeitpsychotherapie für die Behandler mehr als Langzeittherapien. In Privatpraxen ist es krass: In den ersten Stunden einer Behandlung kann man 167,50€ abrechnen - später 92,50€. Der ökonomische Anreiz ist wohl klar, wenn “Neukunden” 81% mehr wert sind als “Bestandskunden”. Dass der Koalitionsvertrag eine "Anpassung der Vergütungsstrukturen" plant und explizit Kurzzeittherapie ins Visier nimmt, schlägt in die gleiche Kerbe. Im Ergebnis sehen wir eine weitere Verkürzung therapeutischer Prozesse - mehr Patienten in weniger Zeit. Qualität wird durch Quantität und vermeintliche(!) Effizienz ersetzt. Wozu einzelnen Psychotherapeuten 60 oder 100 Stunden für einen Patienten bezahlen? Der Therapeut kann in 12 manualisierten, digitalen Gruppensitzungen locker 10 Patienten zugleich behandeln.

Phase 3: Psychotherapie wird einer Ökonomisierung unterworfen, die dem Wesen therapeutischer Arbeit widerspricht. Am Ende steht eine Psychotherapie ohne Psychotherapeuten, die auf kurzzeitige Symptomlinderung und standardisierte Abläufe reduziert ist. Die therapeutische Beziehung - das eigentliche Herzstück unserer Arbeit und entscheidender Wirkfaktor - wird digitalisiert, fragmentiert und den Gesetzen der Effizienz unterworfen. Im Gegensatz zu den Social-Media-Plattformen geht es im Gesundheitssystem aber nicht um eine Maximierung, sondern eine Minimierung der Nutzung.

Diese Entwicklung folgt der Logik einer Plattformökonomie: Es wird mit niedrigen Einstiegshürden angelockt, die Bedingungen werden verschlechtert, und am Ende leidet die Qualität insgesamt.

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